Komm mit mir auf ein Gedankenexperiment: Stell dir vor, dass dein „Ich“, deine Persönlichkeit, das was dich ausmacht nicht einzeln, statisch und festgefahren ist, sondern das Zusammenwirken von zahlreichen Anteilen, die sich im Laufe des Lebens bilden.
Jeder Anteil hat sein eigenes Glaubenssystem, seine eigenen Bedürfnisse, Verhaltensmuster und Empfindungen. Je nach Situation tritt ein anderer Anteil in den Sitz des Bewusstseins und lenkt unser Denken, Fühlen und Handeln. Lass es mich konkret machen:
In jedem von uns ist das sogenannte „Selbst“ angelegt. Mit diesem Anteil kommen wir auf die Welt und es bildet den Kern unseres Wesens. Wenn wir im „Selbst“ sind, spüren wir Mitgefühl, Verbundenheit, Vertrauen, Ruhe, Kraft, Präsenz und Neugier. Es fühlt sich einfach gut an.
Es gibt Anteile, die sich im Laufe des Lebens langsam entwickeln. Wenn du z.B. Mutter oder Vater wirst, entwickelt sich ein Eltern-Anteil. Dieser sorgt sich um das Kind, hat Wissen und Verhalten erlernt, vielleicht sogar eine eigene Stimmlage und Gestik entwickelt, die genutzt werden, wenn die elterliche Rolle benötigt wird.
Ein anderer Anteil trägt deine gesammelte sportliche Erfahrung und Körperintelligenz und übernimmt dann, wenn du eine neue Sportart ausprobierst. All diese Anteile haben sich langsam entwickelt und konnten so gut auch auf neuronaler Ebene in bestehende Strukturen eingebettet werden.
Jeder von uns erlebt auch Erfahrungen, die belastend, schwierig und überfordernd sind. Besitzen wir nicht genügend Kapazität, um diese Erfahrungen zu verarbeiten, passiert etwas Spannendes und Hochintelligentes: Unser Inneres System bildet einen Persönlichkeitsanteil, der diese Erfahrungen, die Last, die Verletzung, den Schmerz trägt. Damit wir diese unangenehmen Gefühle nicht mehr spüren, wird dieser Persönlichkeitsanteil aus unserem Bewusstsein gedrängt. Wir nennen ihn daher „der/die Verbannte“.
Unser System sagt: „So etwas darf nie mehr passieren.“ und bildet daher Anteile, die dafür sorgen, dass eine derartige Erfahrung nicht erneut passiert, das sind die sogenannten Beschützer. Beschützer sind unter Stress entstanden und haben extreme Rollen und Strategien entwickeln, um uns vor ähnlichen Erfahrungen zu schützen. Immer wenn uns im Außen ein Trigger erreicht, der an die Erfahrung erinnert, übernimmt ein Beschützer den Sitz des Bewusstseins.
Mögliche wirksame Beschützer-Strategien sind zum Beispiel:
Ängste
Phobien
Schmerzen und Krankheiten
Wutausbrüche
Süchte
Unterwerfung
Depression und Dissoziation
Vermeiden
Aufschieben u.v.m.
Ist die Gefahr gebannt, kann der Beschützer aus dem Sitz des Bewusstseins weichen und vielleicht das Selbst oder ein anderer Anteil wieder übernehmen.
Warum erzähle ich dir das? Diese Sicht auf unsere Psyche ermöglicht es, unsere innere Welt zu verstehen. Zugleich bietet sie hilfreiche Interventionsmöglichkeiten. Hier ein paar heilsame Impulse und Fragen:
Jeder Anteil ist wichtig und dir wohlgesonnen. Auch Beschützer, die vielleicht extreme Verhaltensmuster entwickelt haben, tun das, um dich vor ggf. Schmerz und Verletzung zu bewahren. Mit diesem Wissen können wir ihnen mit einer Haltung des Wohlwollens begegnen. Sie sind dann bereit zu kooperieren und sich zu entwickeln. Um eine wohlwollende Verbindung aufzubauen, frage dich: Welche positive Absicht hat dieser Teil?
Mach dir bewusst, dass in dir zu jeder Zeit auch „das wahre Selbst“ zu finden ist. Dein „Selbst“ ist reif und liebevoll. Es besitzt die Fähigkeit Anteile zu heilen und zu integrieren. Manchmal waren wir lange nicht mehr im Selbst. Du könntest dich dann fragen: Was kann ich tun, um ins „Selbst“ zu kommen? Wann spüre ich Verbundenheit, Präsenz, Vertrauen, Leichtigkeit und Klarheit?
Als ich dieses Modell das erste Mal kennenglernt habe spürte ich eine klare Zustimmung „ja – so ist es“ – zugleich zeigte sich ein großes Gefühl der Selbstermächtigung. Wie empfindest du es?
Im nächsten Beitrag erzähle ich dir mehr über die heilsame Arbeit mit IFS®-Modell.
Ich durfte diese Erfahrung auch machen, es ist so viel Verständnis für meine Verhaltensweisen und Reaktionen entstanden! Wow! Dank, Tobi, du hast es so toll beschrieben! ♥️🙏🏻